Der Nutella-Faktor

In Ländern wie Ghana oder Kenia hat es der verwöhnte EU-Bürger nicht leicht. Mal geht das Licht aus, mal bleibt das Wasser weg, und allerlei Insekten und Kleintiere bilden ungefragt Wohngemeinschaften mit uns. Das alles schmälert die Lebensqualität. Ein wirklich wichtiger und dennoch bisher von der Wissenschaft weitgehend unbeachteter Indikator fürs individuelle Wohlbefinden ist aber der Nutella-Faktor.

Als ich heute Morgen genüsslich mein Nutella-Brötchen bestrich, kam es mir plötzlich so vor, als hätte dies eine weit größere Bedeutung, als einfach nur ein Brötchen zu sein. Es schien mir in diesem Moment wie Essenz gewordene Lebensqualität. Vielleicht liegt es an dieser ruhigen Zeit, wenn der Schrei eines Kormorans um die Mittagszeit das aufregendste Ereignis des Tages ist. Dann habe ich Muße, über die wirklich wesentlichen Dinge des Lebens nachzudenken. Zum Beispiel über den Nutella-Faktor.

Der Nutella-Faktor gliedert sich in drei Unterfaktoren: 1) Verfügbarkeit, 2) Preis und 3) Lagerung. Für jeden Unterfaktor habe ich eine Bewertungsskala von 1-5 Punkten (Pt.) eingeführt, wobei 1 niedrig ist und 5 hoch. Die drei Unterfaktoren werden am Schluss addiert und durch drei geteilt: Das Ergebnis repräsentiert den Faktor.

Am Beispiel sieht das dann so aus:

Verfügbarkeit von Nutella über 12 Monate

Gar nicht 1 Pt.
1-3 Monate/Jahr 2 Pt.
4-6 Monate/Jahr 3 Pt.
7-9 Monate/Jahr 4 Pt.
10-12 Monate/Jahr 5 Pt.

   

Kommen wir nun zur Auswertung der einzelnen Unterfaktoren. Dabei vergebe ich jeweils einen Wert für jedes Land und begründe die Bewertung anschließend ausführlich.

1) Verfügbarkeit: Ghana 5 Pt., Kenia 5 Pt.

Begründung: Nach einigen Tagen im Hotel in Accra machten wir unseren einen ersten Erkundungsrundgang im örtlichen Supermarkt. Ich betrat ihn mit einer gewissen Skepsis, was Sortiment und Frische der angebotenen Waren anbetraf. Teil war sie berechtigt, teils nicht. Völlig überrascht war ich jedoch von einem Regal, in dem 30 Gläser Nutella gestapelt waren. Im Verlaufe eines Jahres wurde klar: Der offenbar durchweg globalisierte Brotaufstrich war generell vorrätig, wenn auch mit gelegentlichen Versorgungsengpässen. Das hätte natürlich bei der Bewertung des Faktors in Ghana zu einer schlechteren Note führen müssen. Aber nach und nach entdeckte ich in Accra noch andere Quellen für Nutella, deren vielleicht erstaunlichste der Straßenverkauf war. Im Berufsverkehr in Ghana können aus dem Autofenster heraus nahezu sämtliche wichtigen Haushaltseinkäufe erledigt werden: Ölgemälde, Klopapier, Tomaten und vieles andere. Einmal, aber nur ein einziges Mal, bot ein junger Mann auch Nutella an, sogar das große 750 Gramm Glas. Im Wagen waren es vielleicht 45 Grad, die Klimaanlage war gerade kaputt, draußen 35. Ich hatte schon einmal Nutella mit Hitzeschaden gesehen: Das farblose Öl hatte sich unter dem Deckel gesammelt, darunter waberte eine braune krumpelige Masse. Als risikobereiter Anleger kaufte ich trotzdem – zum Schleuderpreis von 5 Cedi (2.50 Euro) – und stellte zuhause fest, dass die Ware einwandfrei war.

2) Preis: Ghana 2 Pt., Kenia 4 Pt.

Begründung: Das erwähnte Nutella-Regal war mit einem großen Preisschild gekennzeichnet. Während man von Etiketten im deutschen Supermarkt eine gewisse Stabilität gewohnt ist, benahm sich das ghanaische jedoch wie der Index der russischen Börse. Die Volatilität, also die Schwankungsbreite, war enorm. Kostet das 400 Gramm Glas anfangs 9.50 ghanaische Cedi, was in etwa 4.75 Euro entsprach, stieg der Preis später auf bis 18.75 Cedi, also etwa 9.35 Euro. Das hätte beim Faktor Preis zur deutlichen Abwertung für Ghana führen müssen, wäre da nicht der junge Mann auf der Straße gewesen, bei dem ich das 750 Gramm Glas so günstig bekommen hatte. In Kenia ist der Preis relativ stabil, auch wenn die Preisgestaltung teilweise seltsam scheint. Gestern stand ich vor zwei Regalbrettern, das obere voll mit 400 Gramm Gläsern, das untere mit 350 Gramm Gläsern. Ein perfider Marketing-Trick: Beide sehen absolut gleich aus, nur der Profi bemerkt den Unterschied. Das Erstaunliche war: Das 400 Gramm Glas kostet 425 kenianischen Shilling, also 3.70 Euro und das kleinere 350 Gramm Glas kostete 495 Shilling, also 4.35 Euro. Vielleicht so: Weniger Nutella hält schlanker, das kleinere Glas ist demnach die „Du Darfst“-Version. Diätnahrung war ja schon immer etwas teurer.

3) Lagerung: Ghana 1 Pt., Kenia 5 Pt.

Begründung: Lagerte ich Nutella in Ghana einfach nur im Küchenschrank, brauchte ich kein Messer, um sie aus dem Glas aufs Brot zu applizieren. Konstante Temperaturen über 30 Grad verwandelten die Creme in eine braune Soße, die besonders auf Weißbrot mit Luftlöchern nur mit Einweghandschuhen essbar war und so manche helle Leinenhose nachhaltig befleckte. Nutella im Kühlschrank hingegen aufzubewahren, war ebenfalls keine Option. Das pappige Weißbrot verwandelte sich unter den markigen Streichen des an Cold Turkey leidenden Nutella-Junkies, der die knallharte Paste hektisch aufzutragen versuchte, in einen Haufen Brotfetzen, an dem ein paar Nutella-Klumpen klebten. In unserer Speisekammer in Kenia hingegen, liegt die Temperatur bei geschätzten 20-25 Grad. Hätte ein Nutella-Glas, wie ein Rotwein, eine Servierempfehlung, unsere Speisekammer wäre genau der richtige Lebensraum für sie. Das Bestreichen hat unter diesen idealen Umständen etwas geradezu religiöses: Hin und her, hin und her…

Auswertung

Unterfaktor/Land Ghana Kenia
Verfügbarkeit: 5 Pt. 5 Pt.
Preis: 2 Pt. 4 Pt.
Lagerung: 1 Pt. 5 Pt.

Gesamt: 8 Pt. 14 Pt.

Nutella-Faktor: 2,66 4,66
 

Fazit
Bei der Nutella-basierten Lebensqualität siegt Kenia klar über Ghana. Oder etwa doch nicht? Wer hier mit Tunnelblick nur auf den Faktor starrt, läuft Gefahr zu irren. Denn es sollte nicht übersehen werden, dass die beiden Unterfaktoren 2) und 3) von 1), also von der Verfügbarkeit, abhängen. Ohne Nutella im Regal sind Preis und Lagerung zuhause irrelevant. Gerade bei diesem wichtigen Faktor liegen Ghana und Kenia gleich auf, auch wenn die Art der Versorgung in Ghana etwas komplizierter scheint. Dies kann aber auch als Vorteil verstanden werden. Denn offenbar existieren dort andere Supply Chains als über die offiziellen Supermärkte. Wenn es heißt “Viele Wege führen nach Rom” bedeutet das eben auch, dass es, wenn einer versperrt ist, Ausweichrouten gibt. Genau das gilt also auch für Nutella in Entwicklungländern.

Und nun zurück zu meinem Nutella-Brötchen.