Liquid Reality


9.00 Uhr morgens, am Strand von Sansibar. Das Wasser spielt hinter dem Riff Verstecken. Die Segelboote draußen tun, was sie tun müssen und segeln vorbei. Ein Sansibari namens Captain Sultan redet auf mich ein. Zwecklos. Denn leider befinden sich alle meine Gehirnzellen gerade im Selbstgespräch. Bitte haben Sie etwas Geduld, die nächste freiwerdende Gehirnzelle ist gleich für Sie da.

Captain Sultan, oder Sulu, wie ihn seine Freunde am Strand rufen, vertreibt Dienstleistungen aller Art. Er ist Kapitalist reinsten Wassers. Falls das unter dieser Sonne möglich wäre, würde Karl Marx erblassen und „Das Kapital“ mit 50er Sonnenmilch umschreiben. Sulu hat keinerlei Besitz an Produktionsmitteln. Sein Büro ist der Strand, sein Werkzeug das Telefon und sein Netzwerk sein größter Besitz.

Sulu beglückt Touristen, versorgt das halbe Dorf mit Jobs und macht obendrein noch Profit. Produkte und Portfolio passt er jederzeit und ganz flexibel ans Wetter, ans Reisebudget oder an Sonderwünsche seiner Kunden an. Er ist Vertriebler, Business-Development Manager, Entwicklungsabteilung, Marketing-Chef, Controller und Chief Executive Officer in einer Person. Und genau damit treibt er mich in den Wahnsinn.

9.00 Uhr morgens, am Strand von Sansibar. Am Abend zuvor haben wir mit Sulu eine Schnorcheltour vereinbar. Um 9.00 soll es losgehen. Weil das Wasser dann niedrig steht, müssten wir ans Riff waten, das ein paar hundert Meter vor der Küste liegt, und dort ins Boot steigen. So hat Sulu es geplant.

„Moin, Sulu“, sage ich. Das „Moin“ ist hier sehr frei übersetzt und soll ein wenig Küstenflair hinzufügen, das auch in Norddeutschland verstanden wird. Ich schaue zum Riff und suche das Boot. Da ist kein Boot.

„Sulu, wo ist das Boot?“

„Booti“, sagt Sulu, weil Sansibaris an englische Worte immer ein „i“ anhängen, „ist nicht am Riff, sondern beim Fischmarkt, ein Stück weiter den Beachi runter“.

Versuche mich an die lokale Kultur anzupassen.

„Aber wir wollten doch vom Beachi zum Riffi laufen und dort ins Booti steigen“.

„Ja, schon, aber, den Strand runter ist besser. Booti liegt beim Fischmarkt, sind nur 10 Minuten zu Fuß.“

Gehe weg. Treffe am Strand U. Erzähle ihm vom Captain Sulus Plan. U. sagt, er sei gestern am Fischmarkt gewesen. Das seien mindestens 45 Minuten Fußmarsch.

Gehe zurück zu Sulu.

„Sulu, das ist zu weit für uns.“

„Ok, kein Problem, dann kommt Booti hierher.“

Prima, sage ich, und gehe am Strand spazieren.

Weitere Touristen treffen ein. Sie wollen auch mit aufs Boot. Ich erzähle Ihnen den Plan. Sie wissen weder etwas vom Ans-Riff-Waten, noch vom Fußmarsch am Strand. In ihrer Welt kommt das Boot direkt hier an den Strand.

Gemeinsam gehen wir zu Sulu.

„Sulu, kommt das Boot nun, oder laufen wir hin?“

„Booti kommt ans Riff.“

Die anderen Touristen protestieren, weil sie keine seeigelfesten Badelatschen dabeihaben.

„Sulu, wir können nicht ans Riff waten, wegen der Seeigel.“

„Ok“. Greift zum Telefon. Beendet das Gespräch.

Sagt: „Booti kommt, hier an den Strand.“

„Aber Sulu, am Strand ist doch kaum Wasser.“

„Doch, da ist genug Wasser.“

Zwischen Strand und Riff ist das Wasser höchstens knöcheltief.

„Aber Sulu, gestern Abend hast Du doch gesagt, es sei zu wenig Wasser und wir müssten ans Riff laufen.

„Wir laufen ans Riff.“

„Gerade hast Du doch gesagt, das Boot kommt an den Strand.“

„Ok.“ Greift zum Telefon. Beendet das Gespräch.

Sagt: „Wir laufen zum Riff.“

Touristen sprachlos. Ich gehe für eine Minute weg. U. setzt die Diskussion fort. Ich komme wieder. Sehe Sulu telefonieren. Frage, wie der Stand ist.

„Wir fahren Taxi“, sagt U.

„Was denn für ein Taxi?“ Bisher war nie von einem Taxi die Rede.

„Na, das Taxi von Captain Sulu.”

„Wohin fahren wir denn?“, frage ich.

„Zum Fischmarkt“, sagt U.

Klingt soweit gut. Rein interessehalber frage ich Captain Sulu.

„Wir fahren also zum Fischmarkt?“

„Nein, nicht Fischmarkt.“

„Nicht Fischmarkt? Aber wohin denn dann?“

„Zum Booti.“

„Aber ich dachte, das Boot liegt am Fischmarkt.“

„Nein.

„Ja, aber wo liegt es denn?“

„Am Strand.“

Ich lasse das jetzt mal so stehen.

Alle gemeinsam warten wir unter einem Baum.

Gehe nach einer Weile auf Sulu zu, öffne meinen Mund, will was sagen, lasse es dann aber lieber.

Wir warten weiter.

Ein Taxi nähert sich. Wir steigen ein. Fahren nicht zehn Minuten, auch nicht 20, sondern 45 Minuten zum einem Strand. Dort liegt das Boot. Zu Fuß hätte das zwei bis drei Stunden gedauert.

Der andere deutsche Tourist murrt: „Wenn ich gewusst hätte, dass das so ein Geficke wird…“

Ich kann dazu nichts sagen. Denn leider befinden sich alle meine Gehirnzellen gerade im Selbstgespräch. Bitte haben Sie etwas Geduld, die nächste freiwerdende Gehirnzelle ist gleich für Sie da.